Das PFH im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts – eine lernende Organisation
Ein Essay von Sigrid Ebert, ehemalige Schulleiterin des Pestalozzi-Fröbel-Hauses
Seit seiner Gründung als Berliner Verein für Volkserziehung (1874) ist das Pestalozzi-Fröbel-Haus als Stiftung öffentlichen Rechts Träger sozialpädagogischer Ausbildungsstätten und Praxiseinrichtungen. Stiftungsauftrag des PFH ist es, zum Zwecke der Ausbildung von Fachkräften im Sozial- und Erziehungsdienst Praxiseinrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe zu unterhalten. Das bedeutet strukturell und konzeptionell die fachschulische und die fachpraktische Ausbildung in wechselseitigen Bildungs- und Entwicklungsprozessen zu verschränken und gesellschaftliche Veränderungen dabei einzubeziehen. Denn berufliche Arbeit im Sozial- und Erziehungsdienst ist Antwort auf gesellschaftlichen Wandel und zugleich Bestandteil dieses Wandels.
Auf der Grundlage der Neuordnung von vormals getrennten Ausbildungsgängen für die pädagogische Arbeit in Kindergarten, Hort, Jugendpflege und Heim zu einem einheitlichen sozialpädagogischen Ausbildungsgang Erzieher*in auf dem Niveau einer Fachschule trat in Berlin 1972 eine von beiden Senatsverwaltungen für Schulwesen und für Familie, Jugend und Sport getragene „Gemeinsame Ordnung der Ausbildung, der Prüfung und der staatlichen Anerkennung von Erziehern“ in Kraft. Es war vor allem das Verdienst einer reformpädagogisch orientierten Jugendhilfepolitik in West-Berlin, dass es sich dabei - im Vergleich zu den in den westdeutschen Bundesländern erlassenen Ausbildungsordnungen - um einen nachhaltigen Professionalisierungsansatz handelte, der bis heute seine Wirkung entfalten kann. Die damaligen Regelungen beziehen sich erstmalig auf Qualitätsziele der fachpraktischen Ausbildung: Auf Blockpraktika in unterschiedlichen Arbeitsfeldern, auf die Durchführung der fachpraktischen Ausbildung in „geeigneten Praxisstellen“ (Praxisanleitung), auf die Mitsprache der Studierenden bzw. der Berufspraktikanten bei der Wahl der Praxisstellen (Praxisvermittlung) und auf Aufgaben seitens der Fachschule (Praxisberatung) auf der Grundlage eines Ausbildungsplan, der „zwischen dem Berufspraktikanten, der Fachschule und den einzelnen Praxisstellen vereinbart wird“, den Lernort Praxis als „Ausbildungsort“ weiter zu entwickeln.
Das Berufspraktikum soll die angehenden Erzieher*innen befähigen, „unter der Anleitung von erfahrenen Fachkräften und im Kontakt mit der Fachschule in zunehmenden Maße selbständig und verantwortlich zu arbeiten“ (Statuspassage). Voraussetzung für die Erteilung der staatlichen Anerkennung war die Fertigung eines Erfahrungsberichtes, der Gegenstand des Kolloquiums war. Die erfolgreiche Teilnahme am Kolloquium wiederum war Voraussetzung für die Erteilung der staatlichen Anerkennung. Die Umsetzung der neuen Ausbildungsordnung war mit der Einrichtung entsprechender Funktionsstellen für die Aufgaben der Praxisvermittlung und Praxisberatung verbunden. Zeitgleich war im Kontext der besonderen politischen Insellage West-Berlins nach dem Mauerbau von der Senatsjugendverwaltung ein langfristiger Plan für der Ausbau der ganztägigen Betreuungsplätze in Kindertagesstätten (Krippe, Kindergarten Hort) beschlossen worden, der auch den Ausbau von Fachberatung und Fortbildung der Fachkräfte mit einschloss. Auch solche Funktionsstellen der „Kita-Beratung“ wurden am PFH eingerichtet.
Dieser Ausbau der Betreuungsplätze in West–Berlin und - damit verbunden – die Erweiterung der Ausbildungskapazität führte am PFH zu einem Mehrbedarf an Lehrkräften. In seinen Anfangsjahren hatte Herr Herbert W. Lohbrunner in seiner Funktion als Schulleiter vor allem das Problem zu lösen, geeignete Lehrkräfte für Unterrichtsfächer zu finden, deren Inhalte erst noch zu erarbeiten waren. Zugleich hatte er sich mit einer konfrontativen Kommunikations- und Kooperationskultur von Teilen des Lehrerkollegiums auseinanderzusetzen. Es waren Lehrkräfte, die überwiegend „frisch“ aus den Universitäten kamen und die gemeinsam mit den Studierenden der Fachschule, die als erwachsene „Quereinsteiger“ ebenfalls den „Marsch durch die Institutionen“ angetreten waren, auf Vollversammlungen und „Sit-Ins“ eine Mitwirkung auf „Augenhöhe“ bei Konferenzbeschlüssen und der Einstellung neuer Lehrkräfte einforderten. Erschwerend für die Stellenbesetzung war zudem der „Radikalenerlass“ (1972-1975). Dieser sah vor, dass bei Einstellungen von Lehrkräften und anderen Bewerbern für den öffentlichen Dienst diese bereits vor dem Eignungsverfahren auf eine Mitgliedschaft in extremistischen Organisationen hin zu überprüfen seien. Was den wegen seiner konservativ-reaktionären Haltung bekannten Landesschulrat, dem das „rote PFH“ ohnehin schon ein Dorn im Auge war, veranlasste, beim Antrittsbesuch von Herrn Lohbrunner in einem maßregelnden Ton zu fordern, dass diese „sozialistischen Umtriebe“ ein Ende haben müssten. Ohne viele Worte darüber zu verlieren, empfanden Herr Lohbrunner und ich diesen Besuch wie einen „Gang nach Canossa“.
Wer aber waren die „neuen Lehrkräfte“, die als Künstler, Soziologen, Psychologen, als kreative Quereinsteiger für die „wissenschaftliche Lehrtätigkeit“ in Unterrichtsfächern wie „Gesundheitslehre“, „Technische Mittler“ oder „Jugendhilfe und -recht“, Kinderspiel und -arbeit oder auch als Studienräte für die Fächer „Jugendliteratur“, „Sozialkunde“ oder „Bewegungserziehung“ die Gestaltung der Ausbildung „vom Sockel auf die Werkbank“ schoben? Sie waren politisch engagiert, teilweise auch in der Außerparlamentarischen Opposition und gewerkschaftlich in der GEW aktiv. Mit ihren reformpädagogisch orientierten, sozialistischen Erziehungs- und Bildungskonzepten sorgten sie für einen neuen Stil und für eine emanzipatorische Wende. Vorrangiges Ziel war der Abbau von hierarchischen Strukturen in der „Schule“ und die Orientierung an ein antiautoritäres Verständnis in Erziehung und Bildung. Ihre Rolle als Lehrende am PFH verstanden sie - ganz im Geiste von John Deweys „Schule der Demokratie“ - als die eines „denkenden Vorarbeiters“. Dieser arrangiert eine Lernumwelt aus Materialien und Werkstätten, aus Bibliothek und Naturbegegnung, aus vielfältigen sozialen Erfahrungsräumen.
Die im PFH vorhandenen großzügigen Funktionsräume, der Verzicht auf eine starre Zeitstruktur und der Wegfall der Pausenklingel sowie Mensa, Arbeits- und Aufenthaltsräume gehörten bereits Ende der 1970er zu einem „ganztägigen“ Schulbetrieb. Dieser ermöglichte am PFH nicht nur ein Lernen in der Schule, sondern auch ein Lernen „an Schule“, an dem in ihr „vor sich gehenden Leben“ (v. Hentig 1995). In einer solchen Organisations- und Lernkultur, die Partizipation und Eigenverantwortlichkeit aller am Lernprozess Beteiligten zulässt, sind Studierende selbständige und eigenwillig Lernende, die ihre eigene Lerngeschichte, vielfältige biografische Erfahrungen und Deutungsmuster in die Ausbildung einbringen. Eine traditionelle Vermittlungsdidaktik, die darauf beruht „Lehrinhalte“ vorweg zu planen und den Lehrplan „abzuarbeiten“, hat bei erwachsenen Lernern nur geringe Erfolgschancen. Die „Kunst“ einer didaktischen Planung des fachschulischen Unterrichts bedeutet aber auch nicht, die Aneignung von Wissen vollständig an die Studierenden zurückzubinden. Es geht vielmehr darum, Voraussetzungen zu schaffen, dass in einem formalen Lernsetting Freiräume enthalten sind, die die Selbsttätigkeit und Selbstbildungskräfte der Studierenden unterstützen, gemäß der reformpädagogischen Leitidee „we learn by doing if we reflect on what we have done“.
Einer „Verschulung“ der Erzieher*innen-Ausbildung – wie sie trotz heftiger Kritik auch seitens Vertreter der Senatsverwaltung für Jugend, Familie und Sport an der KMK Rahmenvereinbarung 1982 geübt wurde (Soziale Arbeit, Heft 5/1981) - konnte sich das PFH nicht zuletzt auch wegen seiner vorhandenen Potenziale entziehen. Anders als in den öffentlichen beruflichen Schulen konnte Herr Lohbrunner durch eine kluge Personalpolitik die Einstellung von Lehrkräften steuern. Dabei nutzte er seine beruflichen Erfahrungen in einer vergleichbaren Fachschule in Bremen. Deren Leiterin Dr. Minnie Stahl gehörte wie Dr. Anneliese Buß, Leiterin des PFH von 1963 bis 1972, dem Kreis „Sozialpädagoginnen der ersten Stunde“ an. Diese waren maßgeblich an den fach- und bildungspolitischen Diskursen um die Neuordnung der Ausbildung für soziale Berufe beteiligt.
Diese Einstellungspraxis kam vor allem der Lernortkooperation zu Gute. Nachgraduierte Sozialpädagoginnen und Lehrerinnen, die nach einer Ausbildung als Kindergärtnerin bzw. Erzieherin – es waren in der Regel Frauen - ein Studium absolviert hatten, konnten quasi als „Brückenbauer“ für die Aufgaben der Praxisberatung und Praxisvermittlung wie auch als Leitungs- bzw. Fachkräfte für die Praxisanleitung in den Praxiseinrichtungen des PFH gewonnen werden. Lehrkräfte, die noch keine Erfahrungen in der Sozialpädagogik mitbrachten, ermöglichte Herr Lohbrunner eine längere Hospitation in den Einrichtungen des PFH, um sich in die curricularen Anforderungen ihres Unterrichtsfachs einzuarbeiten. Hilfreich war in diesem Zusammenhang ein Gutachten der Senatsjugendverwaltung aus den 1980er Jahren. Darin wird auf die „einzigartige Position“ des PFH verwiesen, die darin bestünde, dass es mit seinen „optimalen Strukturen“ , der engen Verbindung zwischen vielfältigen, sozialpädagogischen Praxiseinrichtungen und der Lehre eine Ausbildung für alle Bereiche sozialpädagogischer Arbeit repräsentiert.
So unterstützte der Schulleiter die Initiative der Fachschuldozenten bei der Implementierung eines an der Breite des Berufsfeldes und den Interessen der Studierenden ausgerichteten Wahlpflichtangebots im Fachstudium; im 3. und 4. Semester konnten Studierende ein „Vertiefungsgebiet“ wählen, das sich auf spezifische Arbeitsformen und/oder Themen bezog wie z. B. offene Angebote für „Lücke-Kinder“ im Schöneberger Kiez oder das themenbezogene Handlungsfeld „Zusammenarbeit mit Eltern“ . Dieses von Lehrkräften, auch in Kooperation mit „Praktikern“ inhaltlich entwickelte Unterrichtsformat war am PFH die Grundlage für die schriftliche Prüfung im „didaktisch-methodischen Anwendungsbereich“ (KMK 1982). Die – anders als an westdeutschen Fachschulen/Fachakademien - nicht als praktische Prüfung auf die Durchführung eines geplanten „Angebots“ mit einer Gruppe 3- 6jähriger Kinder fokussiert war.
Ein Meilenstein in dem Bemühen, die „optimalen Strukturen“ des PFH für die Weiterentwicklung von Ausbildungsqualität zu nutzen, war das von Herrn Lohbrunner unterstützte Kooperationsprojekt für die „Theorie-Praxis-Verknüpfung“. Ein Team aus Fachkräften der Praxis und von Lehrkräften der Fachschule entwickelte „Leitfäden“ für die fachpraktische Ausbildung und war als Team verantwortlich für die Inhalte und die Durchführung der Berufspraktikantenseminare sowie für das abschließende Kolloquium.
Zu den Aufgaben und Herausforderungen des Gesamtleiters fiel bereits in den frühen Dienstjahren von Herrn Lohbrunner die Schließung der Hauswirtschaftlichen Berufsfachschule (Haus 2). Mit der Neuordnung der Erzieher*innen-Ausbildung war das „hauswirtschaftliche Jahr“ als Zulassungsvoraussetzung weggefallen.
Auch das 100jährige Jubiläum des PFHs 1973 und die aus diesem Anlass „feierliche Eröffnung“ einer neuen Kindertagesstätte in der Schillerstr. (Charlottenburg) war Aufgabe des Gesamtleiters. Sie fand im kleinsten Kreis, auf Kinderstühlen sitzend mit Mitgliedern des Kuratoriums, einem Vertreter des Jugendamtes Charlottenburg, der Kita-Leiterin, einem Vertreter des Personalrats und der Schulleitung – ohne Presse statt. Die Lehrkräfte des PFH hatten sich verweigert daran mitzuwirken, weil sie dies als eine „lästige Verpflichtung“ zu einer an der Tradition orientierten Inszenierung bewerteten.
Aber schon Mitte der 1980er stieg beim Kollegium das Interesse an der Geschichte des Pestalozzi-Fröbel-Hauses. Die von einer Arbeitsgruppe von Lehrkräften konzipierte Ausstellung „Das Pestalozzi-Fröbel-Haus – Entwicklung eines Frauenberufs“ (1991) führte alle am PFH Beschäftigten zusammen und wirkte identitätsbildend, zumal auch aus diesem Anlass – die Wiedervereinigung machte es möglich - Kontakte zu „Ehemaligen“ aus Ost-Berlin und Brandenburg und auch im Ausland aufgenommen werden konnte.
Diese Ausstellung war Anstoß, dass in den 1990er Jahren, noch vor dem Auszug der unter dem Dach des PFH 1908 von Alice Salomon gegründeten Ausbildungsstätte für sozial-pädagogische Arbeit, Herr Lohbrunner Gespräche mit der damaligen Rektorin der Fachhochschule (Haus 3) Christine Labonté-Roset über ein von PFH und ASH gemeinsam betriebenes „Archiv- und Dokumentationszentrum für Soziale und Pädagogische Frauenarbeit“ stattfanden.
Zeitgleich erreichte die Kritik an der klassisch-bürokratischen Verwaltung und die Diskussion um ein „Neues Steuerungsmodell“ und eine an einem „Leitbild“ orientierte Qualitätssicherung der öffentlichen Dienstleistungen auch das PFH. Initiativen aus dem Mitarbeiterkreis, das PFH als ein „Kompetenzzentrum“ weiter zu entwickeln, wurden von Herrn Lohbrunner unterstützt. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen nahmen an Weiterbildungen zu Themen der Organisations- und Personalentwicklung teil. Im Zuge der Öffnung des europäischen Binnenmarktes wurden Kontakte zu „Ehemaligen“ in den EU-Ländern wieder belebt und die Idee eines „Euro-Erziehers“ geboren. Die Teilnahme am Leonardo da Vinci Programm Ende der 1990er Jahre war nur möglich, weil engagierte Dozentinnen und Dozenten – unterstützt durch die Schulleitung – konzeptionell und eigenverantwortlich die Rahmenbedingungen für die Durchführung von Auslandspraktika gestalten konnten.
Die Verabschiedung von Herrn Lohbrunner im Sommer 1998 war ein fröhliches Sommerfest, offen für alle Beschäftigten des PFH. Die Türen der Turnhalle zur Terrasse waren geöffnet, drinnen wurde zu Klezmer Musik getanzt. Ich hatte den Eindruck, dass ihm – im Unterschied zu seiner Begrüßung am PFH - der Abschied gut gefallen hat.